
Das Rathaus von Bitterfeld-Wolfen ist als ehemaliges Verwaltungs- und Forschungsgebäude der Filmfabrik Wolfen (Geb. Nr. 041) ist ein Spiegelbild von rund 85 Jahren deutscher Geschichte. 1930 wurde die „Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation“ (Agfa) Filmfabrik Wolfen Sitz der Sparte III des I.G. Farbenkonzerns mit 38.000 Beschäftigten, zuständig für die Entwicklung der Sortimente „Photografica, Kunstseide, Riechstoffe“. Das alte Verwaltungsgebäude und die Bedingungen für Forschung und Entwicklung entsprachen nicht mehr den Ansprüchen. Bereits 1928 hatte die „Actien-Gesellschaft für Anilin Fabrikation“ (Agfa) ihre Forschungsabteilung vom Gründungsstandort Berlin nach Wolfen verlegt, nun sollte ein moderneres Gebäude deren Heimat werden.
Beauftragt mit dem Entwurf wurde der Architekt Adolf Herberger, der 1911 in die „Badische Anilin- und Sodafabrik“ (BASF) eintrat. Als Leutnant der Reserve erlebte er im Ersten Weltkrieg einige Monate der grauenhaften Schlachten an der Westfront. Die BASF bewirkte, dass er zur Realisierung wichtiger BASF-Projekte im November 1916 von der Front abgezogen wurde. Mit Entwürfen von Gebäuden in Ludwigshafen und Mannheim profilierte er sich zu einem gefragten Architekten. In den 1920er Jahren errichtete er in Heidelberg attraktive Villen für die Direktoren der BASF. Mit der Erarbeitung des Entwurfs der evangelischen Kirche in Leuna hinterließ er bereits 1928/29 Spuren in Mitteldeutschland. Ab 1936 war Eggert mit der Umgestaltung von Gebäuden für die Filmfabrik Wolfen befasst. Schließlich entstanden in der Filmfabrik die bereits thematisierten Pläne zur Errichtung eines repräsentativen Gebäudes, das Verwaltung und Forschung vereinte und zwischen 1936 und 1939 errichtet wurde. Für die Innenausstattung war Alois Hilsmann (1908-1970) zuständig.
Unter wesentlicher Mitwirkung des Leiters der Forschungsabteilung, Prof. John Eggert (1891-1973), entstand ein Komplex mit einem repräsentativen Rundbau für die Verwaltung, einem Hörsaal mit rund 250 Sitzplätzen und einer akustischen und bildtechnischen Ausstattung. Eine wissenschaftliche Bücherei mit einem in Deutschland einzigartigen Bestand an Literatur auf den Gebieten Fotografie und synthetische Textilfasern ergänzte die günstigen Bedingungen für Forschung und Entwicklung. In den 1930er Jahren war die Filmfabrik ein Forschungsstandort mit Weltgeltung.
Abb.: Luftaufnahme vom heutigen Rathaus Bitterfeld-Wolfen (Foto: Wohnungs- und Baugesellschaft Wolfen mbH)
Die an den Rundbau angrenzenden Ost- und Westflügel beherbergten die Forschungslaboratorien, ein Filmstudio sowie ein Raum zur Vorführung von Kinofilmen. Auf Vorschlag des Direktors der Filmfabrik und Leiters der Sparte III des I.G. Farbenkonzerns Fritz Gajewski (1885-1965) war der Verwaltungsbereich als Rundbau ausgeführt worden, womit an das I.G. Farbengebäude in Frankfurt/Main erinnert wird.
Herzstück des Rundbaues war ein repräsentatives holzgetäfeltes Konferenzzimmer mit großformatigen Gemälden der Gründer der Agfa, die das Unternehmen in Berlin 1873 aus der Taufe gehoben hatten. Schließlich führten die günstigen Standortbedingungen in Wolfen 1894/95 zum Bau der Farbenfabrik Wolfen und 1909/10 der Filmfabrik Wolfen.
Bei Kämpfen mit amerikanischen Truppen vom 15. bis zum 19. April 1945 wurden zwar Teile der Filmfabrik zerstört, das Gebäude selbst aber blieb unversehrt. Danach besetzten amerikanische Truppen die Filmfabrik bis Ende Juni 1945. Nach dem Abzug der Amerikaner wurde das Gebäude Sitz der sowjetischen Militäradministration, die das Werk bis zur Überführung in das sogenannte „Volkseigentum“ am 31. Dezember 1953 leitete. Nunmehr wurde es Sitz der Direktion des „VEB Film- und Chemiefaserwerk Agfa Wolfen“.
Als Leitbetrieb des 1970 gegründeten „Fotochemischen Kombinates“ (FCK) war das nunmehr als Filmfabrik Wolfen firmierende Unternehmen bis zur Auflösung 1990 Sitz der Werkleitung der Filmfabrik Wolfen und der Kombinatsleitung des FCK.
Mit der Gründung der Filmfabrik Wolfen AG 1990 wurde der Sitz der Aktiengesellschaft nach Wolfen verlegt. Nach der späteren Aufspaltung der AG hatte dort bis zur Schließung 1997 auch die Wolfener Vermögensverwaltungsgesellschaft ihren Sitz.
Am 14. März 2008 erwarb die Wohnungs- und Baugesellschaft Wolfen mbH das Gebäude und sanierte es. Damit wurden 20.000 m² räumliche Nutzfläche für die städtischen Angelegenheiten erschlossen. Ein Jahr später wurde der Rundbau Sitz der Verwaltung und des Oberbürgermeisters der Stadt Bitterfeld-Wolfen. Für die Beratungen des Stadtrates Bitterfeld-Wolfen entstand im Erdgeschoss eine attraktive Tagungsstätte (Bild 3). Im Ost- und Westflügel des Rathauses, dem ehemaligen Forschungstrakt, hielten verschiedene Firmen, u.a. seit 2018 das Call-Center „ja-dialog“ mit aktuell 150 Beschäftigten Einzug. Der Hörsaal wird für Vorträge und Filmvorführungen genutzt. Als Anerkennung für Prof. Eggerts wissenschaftliche Leistungen trägt der Hörsaal heute seinen Namen.
Abb.: Beratungsstätte des Stadtrates von Bitterfeld-Wolfen (Foto: Wohnungs- und Baugesellschaft Wolfen mbH)
Abb.: Naturschwammverkauf auf Kolymnos, Griechenland (Foto: Wikipedia)

Nachweise
- Wohnungs-und Baugesellschaft e.V. Frank Stadler, Der Erfinder des 041, Mitteldeutsche Zeitung, Ausgabe Bitterfeld vom 6.8.2014.