Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die chemische Großindustrie in Deutschland am Rhein konzentriert. Doch nach einer Studienreise von Walther Rathenau (1867-1922) durch das mitteldeutsche Braunkohlengebiet Anfang 1893, empfahl er:
„Hier sind die Kohlenlager in meilenweiter Ausdehnung dem Tagebau zugänglich; … und der Wert des Brennmaterials hat sich danach so eingestellt, daß im Vergleich mit Steinkohlen an den Erzeugungsstellen im Rheinland und in Schlesien der gleiche Betrag an Heizwert hier ungefähr die Hälfte kostet.“1
Deshalb errichtete er in Bitterfeld die „Elektrochemischen Werke Berlin G.m.b.H.“ (ECW), wobei er vor allem den Bau und die Inbetriebnahme der Anlagen überwachte. In dieser Zeit pendelte er mit dem Zug von Berlin nach Bitterfeld. Es lag daher nahe, Arbeiten und Wohnen zu verbinden und ein Verwaltungsgebäude mit eingeschlossener Wohnung, das sogenannte „Rathenau-Haus“, zu bauen. In der Baubeschreibung des Gebäudes heißt es:
„…Das Gebäude dient zur Aufnahme der Büreaus und der Wohnungen für den Director und den Portier. Es wird massiv von Mauersteinen, die Außenseiten mit Verblendung von gelben und rothen Rohbausteinen unter Falzziegeldach hergestellt…“.2
Im Dezember 1894 nahm die ECW die Produktion mit 300 von Walther Rathenau entwickelten Elektrolysezellen auf. Die Fabrik war das erste Industrieunternehmen, das für eine elektrochemische Produktion Braunkohle unmittelbar vor Ort nutzte.

Wohl fühlte sich Walther Rathenau in dem Industriedorf Bitterfeld mit seinen 11.000 Einwohnern nicht. Es fehlte ihm das gesellschaftliche Leben. In dieser „schmerzlichen Einsamkeit“ widmete er sich neben seiner beruflichen Tätigkeit der Kunst und der Publizistik.3 1899 wurde Walther Rathenau in das Direktorium der AEG aufgenommen. Seinen Wohnsitz verlegte er deshalb in das elterliche Wohnhaus nach Berlin.
Walther Rathenau leitete 1893 den Übergang zur Großchemie in Mitteldeutschland ein. Er war der Begründer des mitteldeutschen Chemiedreieck.
Das Rathenau-Haus blieb ein unscheinbares Verwaltungsgebäude. 1921 kaufte die Chemischen Fabrik Griesheim-Elektron (CFGE) das ECW-Werk und nutzte das Haus als Verwaltungsgebäude. Von 1925 bis 1945 war das Haus der Verwaltungssitz des IG-Farbenwerkes Bitterfeld Nord.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Bitterfelder Werke in die Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG) Mineral-Düngemittel „Kaustik“ unter dem Namen Zweigniederlassung Deutschland – Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld (EKB) eingegliedert. Fortan war das Rathenau-Haus der Sitz der Bereichsdirektion Schwermetalle des EKB.4 Nach der Bildung des Chemiekombinat Bitterfeld (CKB) 1969 waren im Erdgeschoß die gesellschaftlichen Organisationen des Werkes (SED, FDJ, DSF) und in der 1. Etage die TKO und die Forschungsgruppe Pflanzenschutz (Reko Bi58) untergebracht.
Abb.: Das entkernte Walther Rathenau-Haus im Jahr 1994 (Foto: Bildarchiv Kreismuseum Bitterfeld)
Nach der Währungsunion am 01. Juli 1990 erfolgten aus wirtschaftlichen Gründen viele Betriebsstillegungen im CKB. Das Rathenau-Haus stand auf einem dioxinverseuchten Gelände, das saniert werden musste. Die Mitglieder des Vereins Freunde und Förderer des Bitterfelder Kreismuseums e. V. setzten sich dafür ein, das Haus unter Denkmalschutz zu stellen. Vorsorglich wurde es auch unter vorläufigen Denkmalschutz gestellt.
Die Chemie AG Bitterfeld-Wolfen (CAG) hingegen begann im Januar 1993 mit den Planungen, auf dem Gelände eine Sonderabfallverbrennungsanlage (SAVA) zu errichten und stellte im Juli 1993 den Antrag, das Rathenau-Haus aus dem Denkmalschutz zu entlassen und für den Abriss freizugeben.
Es folgten Protestaktionen von Bitterfelder Bürgern, die gegen den Abriss des Hauses Sturm liefen. Ganze Aktenorder im Stadtarchiv Bitterfeld sind gefüllt mit dem Schriftverkehr und mit Presseartikeln zum Erhalt der pflegewürdigen Traditionsstätte deutscher Technik-Geschichte.
Das Rathenau-Haus war zwar im Denkmalverzeichnis aufgeführt, wurde aber vom Regierungspräsidium Dessau von der Architektur her als nicht schützenswert eingeschätzt. So entschied die Behörde auf Antrag der CAG, das Rathenau-Haus abzureißen.
In einer Nacht- und Nebelaktion wurde das Haus in der Nacht vom 4. zum 5. Januar 1995 abgerissen. Einige Objekte aus dem Rathenau-Haus wurden gesichert und der Walther Rathenau Gedenkstätte in Bad Freienwalde übergeben. Heute befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Rathenau-Werkes das Arial C des ChemiePark Bitterfeld Wolfen.
Nachweise
- Harttung, Arnold u. a.: Walther Rathenau Schriften, Berlin 1965, S. 187; Erstveröffentlichung in: „Die Zukunft“, 31.8.1895. ↩︎
- Kreismuseum Bitterfeld, ECW, Nr. 4, Rathenau-Haus. ↩︎
- Kessler, Harry Graf (1928): Walther Rathenau – Sein Leben und sein Werk. Verlagsgesellschaft Hermann Klemm, S. 35. ↩︎
- Persönliche Mittelung von Fritz Erdbeer ((ehemaliger Bereichsdirektor Leichtmetalle des CKB) an Günter Matter, Bitterfeld am 01.07.2024. ↩︎