
Die Merseburgerstraße ist eine sehr verkehrsreiche und belebte Straße in der Stadt Halle. Direkt neben dem Eingang des Amtsgerichtes, nahe der Haltestelle Heinrich-Schütz-Straße, steht eine alte Villa. Sichtlich wird diese nicht mehr genutzt. Der ein oder andere wird sich die Frage stellen, wieso genau an diesem Ort eine alte, verlassene Villa zu finden ist.
Bei dieser Villa handelt es sich um das denkmalgeschützte, ehemalige Verwaltungsgebäude des Volkseigenen Betriebs (VEB) Karosseriewerke. Das Denkmalverzeichnis des Landes Sachsen-Anhalts beschreibt die Villa als einen dreieinhalbgeschössigen Ziegelbau mit Fachwerkobergeschoss im Heimatstil. Dieses Gebäude soll um 1900 herum gebaut wurden sein.
Abb.: Ein Blick von Süden auf die Villa, 2025 (Foto: Sven Osada)
Die Tradition des Karosseriebaus in Halle begann bereits vor der DDR mit der Gründung der Firma Ludwig Kathe im Jahr 1833. Diese Firma spezialisierte sich auf den Bau von Kutschen. In den 1860er Jahren nahm der namensgebende Eigentümer seinen Sohn als Teilhaber auf. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts stellte man die Produktion von Kutschen auf Fahrzeugkarosserien um. Ludwig Kathe & Sohn galt als die erste Firma, welche eine in alle Richtungen geschlossene Karosserie für Limousinen herstellte. In den 1920er Jahren begann man intensiv mit der später bekannten Auto Union zusammenzuarbeiten und legte den Fokus der Produktion in den 1930er Jahren mehr auf LKW und Omnibusse. Bis 1948 konnte die Firma ihre Namen Ludwig Kathe & Sohn behaupten, bevor sie nach der Zusammenführung mit der Fabrik für Kraftfahrzeuge Otto Kühn und einigen verwaltungstechnischen Umbenennungen bis zum Ende der DDR-Zeit als VEB Karosseriewerke Halle mit zwei Betriebsteilen bekannt werden sollte.
Der erste Betriebsteil lag mit der Villa als Verwaltungsgebäude in der Merseburger Straße und war vor allem für PKW-Sondervarianten zuständig: Modelle wie der EMW 340 (basierend auf einem Vorkriegsmodell), der IFA F9, der Wartburg 311 und der Wartburg Tourist 353/9 wurden hier fertiggestellt. Besondere Bekanntheit erhielten die Karosseriewerke für ihre Spezialaufbauten, unter anderem für den Oberklasse-Pkw P240 Sachsenring Kombi.
Der zweite Betriebsteil in der Nähe der Berliner Brücke war für LKW und Traktoraufbauten zuständig. Neben den Karosserieprodukten war das Unternehmen zudem verpflichtet, Bedarfsgüter herzustellen. Hierzu zählten beispielsweise Schalensessel und Hutablagen für den Wartburg.
Die Liquidation und Auflösung der Karosseriewerke fand am 20. März 1991 statt. Zu dieser Zeit waren etwa 1.000 Mitarbeiter in Halle für das Unternehmen tätig. Nach dem Ende der DDR wurden die Gebäude der Fabrik abgerissen und das freigewordene Gelände als Parkplatz genutzt. Die Villa überstand diesen Vorgang, auch wenn diese alleine kaum noch eine Vorstellung der tatsächlichen Dimensionen der Fabrik zulässt.
Wenngleich die Villa heute in keinem schönen Zustand ist und eher als ein „Lost Place“ inmitten der belebten Südstadt verstanden werden kann, bietet sie die Möglichkeit, zumindest einen Teil der etwa 150 jährigen Karosseriebaugeschichte der Stadt Halle nachvollziehen zu können.
Abb.: Ein näherer Blick auf die Frontfassade, 2025 (Foto: Sven Osada)
