Kategorien
Textbeitrag

Das PVC-Technikum in Bitterfeld

Ein Beitrag von Günter Matter

Der Direktor des IG Farben-Werkes in Bitterfeld, Gustav Pistor (1872-1960), drängte darauf, die Eigenschaften des polymerisierten Vinylchlorids zu verbessern. Eigens dafür ließ er das sogenannte PVC-Technikum errichten. In dem 1935 fertiggestellten Gebäude wurde der Weg gefunden, PVC allseitig in der Wirtschaft einzusetzen.

Als Verbraucher kennen wir PVC nur als einen eingefärbten Kunststoff in Form von Profilen, Rohren, Folien, Fußbodenbelag oder sonstigen Produkten. Doch das polymerisierte Vinylchlorid, das erstmals Anfang der 1930er Jahre in Bitterfeld hergestellt wurde, ist ein weißes Pulver, welches erst durch weitere Verarbeitungsschritte zu dem wird, was wir landläufig unter PVC verstehen. Die Enttäuschung war groß, als man 1930 aus dem Bitterfelder PVC-Pulver Fertigprodukte herstellte. Die gefertigten Teile waren spröde und hatten eine geringe Festigkeit. Der Direktor des IG Farben-Werkes in Bitterfeld, Gustav Pistor (1872-1960), drängte deshalb darauf, die Eigenschaften dieses neuen Stoffes zu verbessern. Eigens dafür ließ er das sogenannte PVC-Technikum errichten. In dem 1935 fertiggestellten Gebäude wurde dann ein Weg gefunden, PVC allseitig in der Wirtschaft einzusetzen.1

1835 hatte Henri Victor Regnault (1810-1878) durch Einwirkung von Sonnenlicht auf eine Vinylchlorid-(VC)-Mixtur (C2H3Cl) ein weißes Pulver erhalten, ohne zu ahnen, dass es Polyvinylchlorid (PVC) war. Erst 100 Jahre später erkannte man die Bedeutung der Substanz.

Das rektionsfähige Acetylen (C2H2) regte Emil Zacharias (1864-1944), Adolf Rollet (1885-1915) und Fritz Klatte (1880–1934) bei der Chemischen Fabrik Griesheim-Elektron (CFGE) 1910 an, nach Verbindungen auf Basis von Acetylen zu suchen.

Klatte stellte durch Anlagerung von Chlorwasserstoffgas an Acetylen Vinylchlorid (VC) her. Das Verfahren wurde von der CFGE patentrechtlich geschützt. Bei weiteren Untersuchungen setzte Klatte Glasgefäße mit VC dem Sonnenlicht aus und erkannte, dass sich die Substanzen durch Belichtung, Erhitzen o. dgl. … zu festen Körpern polymerisieren.“2

Zusammenfassend wurden die Ergebnisse der Untersuchungen in dem Grundsatzpatent zur Polymerisation von Vinylverbindungen Verfahren zur Herstellung einer auf Hornersatz, Films, Kunstfäden, Lacke u. dgl. verarbeitbaren plastischen Masse“3 niedergelegt.

Da im Ersten Weltkrieg zur Herstellung von Lacken nicht genügend Naturharz zur Verfügung stand, der bis dahin aus Übersee importiert worden war, stellte man auf Basis der Synthesen von Zacharias, Rollet und Klatte einen Ersatzstoff her, der als Flugzeuglack verwendet wurde. Ein finanzieller Erfolg war das Produkt für die CFGE nicht, sodass die Produktion nach dem Ersten Weltkrieg wieder eingestellt wurde. Vorerst folgte keine weitere Produktentwicklung, weshalb die CFGE die Vinylpatente 1926 fallen ließ – ein großer Fehler, wie sich später herausstellte.

Klatte setzte seine Arbeiten auf dem Gebiet der VC-Polymerisation trotzdem fort, war er doch fest davon überzeugt, einen brauchbaren Kunststoff gefunden zu haben. Die Bitterfelder Forscher erkannten das Potenzial, das in dem Material steckt und begannen 1928 mit Versuchen zur großtechnischen Herstellung von PVC. Die Produktqualität des Materials konnte so weit verbessert werden, dass 1930 in Bitterfeld und Rheinfelden eine PVC-Versuchsproduktion aufgenommen wurde. 1932 entwickelten Curt Schönburg (1888-1950) und Emil Hubert (1887-1945) durch Nachchlorierung von PVC ein brauchbares Polymerisat, das sich in Aceton lösen ließ. Es erhielt die Bezeichnung PeCe, das zur Herstellung von Folien, Lacken und Klebelösungen geeignet war. Damit konnte das als Nebenprodukt bei der Alkali- und Magnesiumelektrolyse in großen Mengen anfallende Chlor gewinnbringend genutzt werden.

Abb.: Forscherteam der CFGE, Werk Mainthal, 4. v. r. Klatte, 6. v. l. Zacharias, 1910 (Foto: Archiv Adolf Eser, Muldenstein)

1934 wurde auf einer Versuchsanlage in der Filmfabrik die erste vollsynthetische Faser, die PeCe-Faser, gezogen. Es war die Geburtsstunde der ersten vollsynthetischen Faser der Welt.

Da die Nachchlorierung recht aufwendig war, begannen die Bitterfelder Forscher sich der Entwicklung von Erzeugnissen aus dem normalen nicht nachchlorierten Polyvinylchlorid zu widmen. Im PVC-Technikum fand Georg Wick (1889-1939) den Weg aus dem nicht nachchlorierten Polyvinylchlorid einen thermoplastischen Kunststoff zu formen. Das weiße Pulver wurde press- und formbar. Auf diesen Ergebnissen aufbauend entwickelte Walter Buchmann (1907-1947) Verfahren und Vorrichtungen zum Strang- und Schlagpressen, Spritzgießen und Kalandrieren von PVC. Ihm gehört das Verdienst, als Erfinder der nahtlosen PVC-Rohre in die Geschichte eingegangen zu sein.

Unter Zugabe des Weichmachers Trikresylphosphat konnte 1938 erstmalig ein Weich-PVC hergestellt werden. Der zu Kabelummantelungen eingesetzte Kunststoff erhielt den Namen Igelit. Auch Schuhe wurden aus dem Material hergestellt.

Ab den 1940er Jahren wurde PVC als vollwertiger Werkstoff anerkannt. PVC wurde zum meistproduzierten Kunststoff in der Welt.

Das PVC-Technikum ist heute ein Teil des ChemiePark Bitterfeld-Wolfen.

Abb.: Im PVC-Technikum 1936 sechs gefertigte Kunststoff-Bauteile (Foto: LASA MER, I 506, Nr. 1617.)


Nachweise

  1. Buchmann, Walther (1944): Eigenschaften von PVC-Kunststoff. Berlin. ↩︎
  2. DRP 281 687. ↩︎
  3. DRP 281 877. ↩︎

Literaturverzeichnis