ein Beitrag von Ingrid Würth
Die Kirche in Halle, die heute den Namen Ulrichskirche trägt, ist eigentlich gar keine Ulrichskirche. Sie wird erst seit 1531 so genannt, als Kardinal Albrecht in einer großangelegten Umstrukturierungsmaßnahme die Sakraltopographie der Stadt neu ordnete. Bis zu diesem Zeitpunkt befand sich die Ulrichskirche im Norden der Stadt beim Ulrichstor. Auch dieses ist verschwunden, aber die Einmündungen der Kleinen und Großen Ulrichstraße in den Moritzburgring markieren bis heute den Ort, an dem es stand. Zwischen den beiden Straßen in der Nähe der Stadtbefestigung lag die Ulrichskirche, die als Pfarrkirche für den gesamten Nordteil Halles zuständig war. Die heutige Bebauung des Quartiers lässt nicht erahnen, dass es bis ins 16. Jahrhundert ein Kirchengebäude und einen Friedhof umfasste – ein „Lost Place“ mitten in der Stadt.
Die schriftlichen Quellen enthalten aber einige Informationen über die Ulrichskirche. Sie wird zusammen mit ihrem Friedhof zum ersten Mal im Jahr 1211 erwähnt, und nur kurz darauf, 1214, übertrug sie der Magdeburger Erzbischof dem Neuwerksstift. Von nun an waren also die Kanoniker dafür zuständig, dass in der Kirche Gottesdienste gehalten und Sakramente gespendet wurden. Einige der Priester, die dort wirkten, kennen wir namentlich: Poppo (1210/11), Alexander (1229-1251), Erwin (1290-1300), Johannes (1302-1306), Peter (1327), noch ein Johannes (1329) und Eberhard (1337). Im Jahr 1295 erhielt die Ulrichskirche eine Ablassurkunde aus Rom, der wir wichtige Informationen verdanken. Wer an Weihnachten, am 1. Januar, an Epiphanias, Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten, an den Marienfeiertagen und anderen Heiligenfesten in der Kirche betete, die Gottesdienste besuchte und an den Prozessionen teilnahm oder für das Gotteshaus etwas spendete, erhielt für jede einzelne dieser Leistungen 40 Tage Ablass seiner Sündenstrafen. Nebenbei werden der Hauptaltar, weitere Altäre und die Ausstattung der Ulrichskirche mit liturgischen Gewändern und Gerätschaften sowie Kerzenständern erwähnt.
Im Vergleich mit anderen mittelalterlichen Kirchen ist das alles nichts Besonderes. Doch man kann sich vorstellen, wie das Alltagsleben in der Ulrichskirche ablief, mit Messen, Andachten, Gebeten, Prozessionen, Besuchen auf dem Friedhof. Wie genau das Kirchengebäude aussah, wissen wir nicht, ebenso wenig, wie lange es die Kirche bereits gab. Die Anfänge der drei anderen alten Pfarrkirchen in Halle, St. Marien, St. Gertrud und St. Moritz, lassen sich mindestens auf den Beginn des 12. Jahrhunderts datieren. Es ist naheliegend, dass auch die Ulrichskirche aus dieser Zeit stammte. Warum musste ausgerechnet sie den Plänen Kardinal Albrechts in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zum Opfer fallen?
Wahrscheinlich lag sie zu nahe an der Moritzburg und am Neuen Stift, ihre Funktion als Pfarrkirche an dieser Stelle war überflüssig geworden. Bereits 1523 hatten auf Betreiben des Kardinals die Kanoniker von St. Moritz und die Dominikaner ihre Kirchen getauscht, 1530 war das Neuwerksstift aufgelöst und innerhalb kürzester Zeit dessen Kirche vollständig abgerissen worden. Die heutige Ulrichskirche, die vorher vom Orden der Serviten benutzt worden und der Hl. Maria geweiht war, stand schon seit 1527 leer, weil die Mönche Halle verlassen hatten. Durch die Verlegung der Ulrichspfarrei konnte man wohl zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Im Südosten der Stadt wurde wieder eine Anlaufstelle für die Seelsorge geschaffen, in einem relativ neuen, großen Gebäude – die Bauarbeiten an der Kirche der Serviten waren erst 1510 beendet worden. Die alte Ulrichskirche hingegen war vermutlich alt und baufällig, zumindest gibt es keine Nachrichten über irgendwelche Instandsetzungen. In die Vorstellungen Kardinal Albrechts von seiner strahlenden erzbischöflichen Residenz Halle dürfte die armselige Pfarrkirche in Sichtweite der Moritzburg schlecht gepasst haben – da war die Pfarrei in der gotischen „modernen“ neuen Ulrichskirche viel repräsentativer untergebracht.
Mit der alten Kirche verschwand jedoch nicht der Hl. Ulrich als Patron einer der Pfarreien in der Stadt. Er zog mit um an die Leipziger Straße, und die Ulrichsgemeinde existierte dort bis 1971. Selbst nach der Profanierung blieb die Benennung in der Konzerthalle St. Ulrich erhalten. Zwar ist der Ort des ursprünglichen Gotteshauses nicht mehr erkennbar und ein „Lost Place“, doch sein Name ist über verschiedene Stationen überliefert worden und transportiert ein Stückchen Erinnerung an die alte Ulrichskirche bis in die Gegenwart.